Amnesien – wenn das Erinnern misslingt

Ohne unser Gedächtnis wären wir kaum handlungsfähig. Wir könnten keine neue Erinnerungen bilden und hätten eine andere Persönlichkeit. Denn wir werden zu dem Menschen, der wir sind, durch Lernerfahrungen. Wir machen Erfahrungen, verarbeiten diese, speichern sie ab. Dass das gelingt, verdanken wir drei verschiedenen Gedächtnissystemen. Diese lassen sich zwar anatomisch nicht trennscharf feststellen, erklären aber als Modellannahmen gut, wie unser Gedächtnis funktioniert. Unser Gedächtnis hilft uns, Informationen einzuspeichern, zu behalten und abzurufen, wenn wir sie wieder benötigen.

Dabei spielt das so genannte „Langzeitgedächtnis“ eine wichtige Rolle. Neben dem „sensorischen Register“ und dem „Arbeitsgedächtnis“ bildet es die grundlegenden Gedächtnisformen. Im Langzeitgedächtnis werden, wie der Name vermuten lässt, Informationen für längere Zeit abgelegt. Diese „längere Zeit“ kann dabei wenige Minuten, aber auch Jahre oder Jahrzehnte umfassen. Das sensorische Register stellt hingegen eine Art Ultrakurzzeitaufnahme dar und beinhaltet das, was unsere Sinnessysteme in der aktuellen Sekunde aufnehmen. Das Arbeitsgedächtnis, was man früher auch häufiger als „Kurzzeitgedächtnis“ bezeichnet hat, befindet sich quasi zwischen diesen Systemen. Informationen, die für uns im Moment relevant sind, befinden sich im Arbeitsgedächtnis.

Hier hinein gelangen die Informationen aus dem sensorischen Register, aber auch Informationen aus dem Langzeitgedächtnis, wenn wir diese abrufen. Das Arbeitsgedächtnis entscheidet quasi, wie wir auf unsere Umwelt reagieren. Es umfasst nur wenige Sekunden bis Minuten. Die Anzahl der Wissenseinheiten, die man sich im Arbeitsgedächtnis auf einmal merken kann, ist stark begrenzt. Man geht von sieben plus/minus zwei Einheiten aus, die man sich auf einmal merken kann, Telefonnummern oder Ländernamen zum Beispiel. Was im Arbeitsgedächtnis nicht mehr gebraucht wird, wird entweder zur weiteren Verwendung ins Langzeitgedächtnis übertragen oder gelöscht, genauer gesagt, durch neu einkommende Informationen überschrieben.

Können sich Menschen Dinge nicht mehr merken, kann das aufgrund dieser drei Gedächtnismodelle zwei Ursachen haben: entweder, neue Informationen können nicht mir in das Langzeitgedächtnis transferiert werden oder frühere Erinnerungen können nicht mehr aus diesem ins abgerufen, also ins Arbeitsgedächtnis zurückgerufen werden. Im ersteren Fall spricht man von einer „anterograden Amnesie“. Betroffene leben quasi ständig im Hier und Jetzt. Sie können keine neuen Erfahrungen mehr sammeln, vergessen alles sofort wieder. Im Alltag können sie sich orientieren und sinnvoll handeln, da das Arbeitsgedächtnis Informationen weiterhin verarbeitet. Aber das Langzeitgedächtnis ist nicht mehr auffüllbar mit neuen Informationen.

Die andere Form der Amnesie ist die retrograde Form. In diesem Fall können neue Erinnerungen entstehen, aber alte Erinnerungen bleiben verschüttet. Alles vor Entstehen der Amnesie ist „weg“.

Ein bekannter Fall mit anterograder Amnesie war Patient H.M. (Henry Gustav Molaison, 1926-2008). H.M. war wegen einer lebensbedrohenden Epilepsie zum ersten Mal in der Medizingeschichte der Hippocampus in beiden Gehirnhälften neurochirurgisch entfernt worden. Das war im Jahr 1953. Man spricht von einer „Lobektomie“. Heutzutage sind solche brachialen Eingriffe, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, glücklicherweise nicht mehr üblich. Denn man merkte schnell, dass der Hippocampus der Sitz unseres Langzeitgedächtnisses ist. Die Gehirnstruktur befindet sich auf beiden Gehirnhälften zentral im Inneren des Gehirns und gleicht von der Form her einem Seepferdchen. Daher der Name „Hippocampus“. H.M. pflegte als älterer Mann nach der Operation dasselbe Buch immer wieder mit großer Begeisterung zu lesen. Denn am Tag nach dem er es gelesen hatte, erinnerte er sich nicht mehr daran. Offensichtlich war das langdauernde Abspeichern neuer Informationen durch die Zerstörung des Hippocampus unmöglich geworden. Im Gegensatz dazu erinnerte sich H.M. aber gut an Ereignisse, die vor der Operation lagen. Somit war der Zugang zu bereits gespeicherter Information intakt.

Ganz anders erging es Jimmie G. Er konnte sich erstaunlich gut an alle Details aus seinem Leben bis 1945 erinnern, aber an nichts danach. Sein Kurzzeitgedächtnis war beeinträchtigt. Man fand nach und nach heraus (nachdem Jimmie G. ins Krankenhaus eingeliefert worden war) wer er war: Jimmie G. war eine Zeit lang Hilfsfunker an Bord eines amerikanischen U-Bootes gewesen und konnte als man ihn eines Tages verwirrt umherlaufen fand, immer noch morsen, blind maschineschreiben, und kannte die Namen aller Schiffe der US-Marine bis 1945. Nach dem Krieg hatte er Mathematik studiert. Vermutlich weil er den außermilitärischen, ungeregelten Tagesablauf nicht gewohnt gewesen war. Und er hatte um den Zeitpunkt seiner Entlassung bei der Marine in den Fünfzigern herum begonnen, zu trinken. Jimmie G. hatte das Korsakow-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine Amnesie, die die Fähigkeit nimmt, sich an lang zurückliegende Ereignisse zu erinnern. Auslöser ist ein Thiaminmangel (Vitamin B1-Mangel), der durch Mangel- oder Fehlernährung infolge von Alkoholismus hervorgerufen wird.

Als Amnesie generell wird der Verlust des Gedächtnisses bezeichnet. Die beiden Fälle zeigen: Betroffene können sich nicht mehr an Vergangenes erinnern (retrograde Amnesie) und/oder neue Erlebnisse und Erfahrungen nicht abspeichern (anterograde Amnesie). Der Begriff Amnesie kommt aus dem Griechischen: „a“ = „ohne“ und „mnémē“ = „Gedächtnis, Erinnerung“.

Unser Erinnerungsvermögen kann nicht nur durch Drogen- und Alkoholmissbrauch beeinträchtigt werden oder wenn Teile des Hippocampus entfernt werden, sondern auch durch einfache Alterungsprozesse: Demenz ist ein Auslöser von Amnesie. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, an Demenz zu erkranken. Nach dem 59. Lebensjahr verdoppelt sich die Prävalenz. Dabei ist Alzheimer die häufigste kortikale Demenz. Die Alzheimer-Krankheit (benannt nach dem deutschen Arzt Alois Alzheimer), wird auch als „Morbus Alzheimer“ oder „Demenz vom Alzheimer-Typ“ bezeichnet. Erstes Anzeichen von Alzheimer ist meist eine Verschlechterung des Kurzzeitgedächtnisses. Verwirrtheitszustände und Stimmungsschwankungen begleiten die spätere Symptomatik. Letztlich verändert sich die Persönlichkeitsstruktur. Die Betroffenen werden jähzornig und aggressiv. Der Grund für das voranschreitende Vergessen sind Eiweißablagerungen im Gehirn: Zunächst entstehen sogenannte „Amyloide“, mikroskopisch kleine Eiweißbruchstücke. Diese strukturellen Veränderungen im Gehirn lassen sich wiederum in „neurofibrilläre Tangels“ und „senile Plaques“ unterteilen. Bei den neurofibrilären Tangels handelt es sich um kleine haarlockenförmige Proteinfasern. Plaques sind Amyloid-Ablagerungen in Kugelform.

Plaques bilden sich bei jedem Menschen mit zunehmendem Alter. Bei der Alzheimer-Krankheit entstehen sie allerdings besonders zahlreich. Senile Plaques verhindern die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Langfristig führt das zum Absterben der betroffenen Nervenzellen. Schließlich sind mit fortschreitendem Krankheitsverlauf ganze Gehirnbereiche betroffen, unter anderem auch jene, in denen die Gedächtnisfunktionen lokalisiert sind.

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